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Joseph Farha

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Max Mutschler

Literaturhinweise
Stabilisation – For Whom and to What Ends?

Esther Meininghaus, Katja Mielke, Max M. Mutschler | BICC | 2019

Die Gretchenfrage bei Stabilisierungsmaßnahmen

Wie steht es um die Menschenrechte?
29. November 2019
Tränengaseinsatz bei Demonstrationen durch die französische Polizei. Foto: ev | Unsplash.

Stabilisierung ist keine neutrale, rein technische Angelegenheit, sondern muss als hochpolitische Intervention verstanden werden und kann den Schutz der Menschenrechte in Frage stellen. Dies trifft nicht nur bei direkten militärischen Interventionen zu, sondern auch bei niedrigschwelligen Verfahren. Stabilisierungs-Aktivitäten sollten daher konkrete Zeitpläne und Meilensteine sowie menschenrechtsbasierte Risikobewertungen beinhalten.

Impuls 11/2019 von Joseph Farha, Esther Meininghaus, Max Mutschler, BICC

Stabilisierung ist keine neutrale, rein technische Angelegenheit, sondern muss als hochpolitische Intervention verstanden werden. Um zu veranschaulichen, wie Stabilisierungspolitik den Schutz der Menschenrechte in Frage stellen kann, greifen wir auf zwei selten berücksichtigte Beispiele zurück: die Bereitstellung von Technologien für die Polizei zur Kontrolle von Menschenmengen (crowd control) sowie Trainingsmaßnahmen im Bereich der physischen Sicherheit und Verwaltung von Waffen- und Munitionslagerbeständen (Physical Security and Stockpile Management – PSSM). Obwohl diese Maßnahmen im Vergleich zu direkten militärischen Interventionen oder Waffenlieferungen als niedrigschwelliger eingestuft werden können, kommen wir zu dem Schluss, dass selbst diese Aktivitäten den Schutz der Zivilbevölkerung und der Menschenrechte gefährden können. Da sich das BICC selbst aktiv mit PSSM-Training in (Post-)Konfliktgesellschaften beschäftigt, ist eine solche Reflexion für seine Arbeit von großer Bedeutung.

Stabilisierung als hochpolitische Intervention

Obwohl es keine international vereinbarte Definition von Stabilisierung gibt, konzentrieren sich sogenannte Stabilisierungsmaßnahmen Externer in der Regel darauf, die Kapazitäten einer Regierung und des Staatsapparats zu stärken. Staatliche Organe sollen in die Lage versetzt werden, Kernfunktionen der Regierungsführung zu erfüllen, z. B. Sicherheit oder grundlegende öffentliche Dienstleistungen zu gewährleisten. Diejenigen, die Stabilisierung befürworten, sehen darin einen pragmatischen Ansatz zur Reduzierung von Gewalt: Wenn die Fragilität eines Staates als Problem identifiziert wird (z. B. weil die staatlichen Sicherheitskräfte zu schwach sind, um für Sicherheit zu sorgen), müssen zumindest die vorhandenen staatlichen Kapazitäten durch internationale Unterstützung gestärkt werden. Dies kann Entwicklungszusammenarbeit oder die Bereitstellung von Ausbildung und Ausrüstung für Militär und Polizei (Train and Equip, T & E) bedeuten. Aber auch UN-Friedenssicherungsmissionen, die zum Ziel haben, die Regierung bei der Wiederherstellung und Erhaltung der Ordnung bei anhaltenden Konflikten zu unterstützen, sind hier zu nennen – z. B. MINUSMA in Mali oder MINUSCA in der Zentralafrikanischen Republik.

Diese positive Perspektive auf Stabilisierung vernachlässigt jedoch eine potenziell gefährliche Überbetonung von Sicherheit, Ordnung und Autorität, die dann entsteht, wenn sich das Konzept der Stabilisierung weitgehend auf den Staat als das zentrale zu stabilisierende Objekt konzentriert. Der Staat an sich ist nämlich nicht „von Natur aus gut“ oder zumindest „neutral“. Die Regierung eines Staates kann auch eine Bedrohung für die Menschen darstellen, die er eigentlich schützen soll. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Führungsstrukturen faktisch undemokratisch oder korrupt und nicht rechenschaftspflichtig sind. Stabilisierungsbemühungen in solchen Situationen können dazu führen, dass repressive Strukturen, die zentraler Bestandteil des Problems sind, verfestigt werden, was zu kontinuierlichen Zyklen der Gewalt statt zu deren Abbau führen kann.

Dies veranschaulicht ein kurzer Blick auf die Stabilisierungspolitik in Mali. Da der Aufstand, der 2012 begann, deutlich zeigte, dass die malischen Streitkräfte nicht über ausreichende Kapazitäten verfügten, schulte etwa die Ausbildungsmission der Europäischen Union (EUTM) rund 13.000 malische Soldaten (2013-2018). Den malischen Sicherheitssektor kennzeichnen jedoch tief verwurzelte Korruption und die Missachtung der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte. Menschenrechtsorganisationen dokumentierten zahlreiche Fälle von Folter und außergerichtlicher Hinrichtung sowie Angriffe auf die Zivilbevölkerung durch malische Sicherheitskräfte. Die Reform des Sicherheitssektors, die die Rechenschaftspflicht der Sicherheitskräfte stärken könnte, kommt in der Praxis kaum voran. Unter solchen Bedingungen kann die Ausrüstung und Ausbildung von Sicherheitskräften sich als das genaue Gegenteil von stabilisierend erweisen. Denn die kontinuierlichen Menschenrechtsverletzungen des malischen Militärs sind einer der Gründe, weshalb oppositionelle Gewaltgruppen Zulauf erhalten. Insgesamt ist zu konstatieren, dass sich die Sicherheitslage in Mali, insbesondere in der Zentralregion, in den letzten Jahren verschlechtert hat.

Crowd Control-Technologie zur Schaffung „öffentlicher Ordnung“

Die Stabilisierungsbemühungen in Mali veranschaulichen beispielhaft, wie problematisch die Ausrüstung und Ausbildung von Sicherheitskräften sein kann. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Ausstattung des Militärs mit tödlichen Waffen, sondern auch schon für die Bereitstellung von sogenannten „weniger tödlichen“ (less lethal) Waffen zur „Kontrolle von Menschenmengen“ (crowd control). Hierunter fallen zum Beispiel Tränengas, Gummigeschosse oder Wasserwerfer.

Es sind mehrere Fälle dokumentiert, bei denen in Friedens- und Stabilisierungsmissionen UN-Sicherheitskräfte solche Crowd Control-Technologie nutzten. So haben UN-Truppen in Haiti zwischen 1995 und 2009 bei mindestens zwölf Gelegenheiten sogenannte Riot Control Agents (RCAs) eingesetzt. Am 3. März 2009 beispielsweise rückten Truppen der MINUSTAH (Mission des Nations Unies pour la stabilisation en Haïti) gemeinsam mit der lokalen Polizei mit Tränengas gegen protestierende Studierende in Port-au-Prince vor.

Der Einsatz solcher Mittel zur Herstellung „öffentlicher Ordnung“ und der „Kontrolle von Menschenmengen“ ist nicht grundsätzlich illegitim. Dennoch handelt es sich dabei um Gewaltmittel, die Menschenrechte (z. B. die Versammlungsfreiheit) sowie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit beim Einsatz staatlicher Gewalt verletzen können. Letzteres veranschaulicht zum Beispiel der Einsatz von Wasserwerfern. Ein südkoreanischer Hersteller von Wasserwerfern, bei denen die Beimischung chemischer Reizstoffe möglich ist, erklärte erst kürzlich, dass er solche Systeme auch nach Bangladesch exportiere und dass diese für den Einsatz im Rahmen einer UN-Friedensmission vorgesehen seien (Bangladesch zählt zu den größten Truppenstellern für UN-Friedensmissionen).

Es fehlt eine Diskussion darüber, welche Technologien bei Stabilisierungsmissionen bereitgestellt werden sollten – und welche Restriktionen es geben sollte. Menschenrechtsstandards sind zwar ein integraler Bestandteil der Ausbildung von in UN-Missionen eingesetzten Polizeieinheiten. Wenn aber klare Leitlinien hinsichtlich der Umsetzung dieser Standards in der Praxis fehlen, sind sie von sehr geringem Nutzen. Dies gilt insbesondere dann, wenn praktisch gar keine oder nur eine sehr begrenzte juristische Rechenschaftspflicht der staatlichen Polizeikräfte besteht.

Ambivalenzen beim Waffen- und Munitionsmanagement

Auch Physical Security and Stockpile Management (PSSM) gilt als wichtige Stabilisierungsmaßnahme in Post-Konflikt Gesellschaften. PSSM soll staatliche Stellen darin unterstützen, die Sicherheit und Kontrolle ihrer Waffen- und Munitionsbestände zu verbessern. Auf diese Weise trägt PSSM sowohl zur Kontrolle von Klein- und Leichtwaffen (Small Arms and Light Weapons – SALW) als auch größerer Munitionssysteme (z. B. Fliegerbomben, Raketen) bei. Ausbildungs- und PSSM-Maßnahmen erscheinen auf den ersten Blick völlig unproblematisch. Tatsächlich ist ein gutes Management von Waffen und Munition entscheidend, um das Risiko unbeabsichtigter Explosionen, die eine Bedrohung für die lokale Bevölkerung und die Umwelt darstellen, zu reduzieren und die illegale Verbreitung von Waffen- und Munition zu unterbinden.

Gleichzeitig beinhalten PSSM, Kleinwaffenkontrolle und entsprechende Schulungen für den staatlichen Sicherheitssektor auch Risiken. Neben dem Reputationsgewinn für die Regierung durch internationale Partnerinstitutionen dienen sie der Professionalisierung und Effizienzsteigerung der Streitkräfte, indem sie ihnen den reibungslosen Zugang zu Waffen und Munition ermöglichen und die Ausbildung im Bereich der Militärlogistik unterstützen. Dies ist problematisch, wenn die Sicherheitskräfte in der Vergangenheit Repression gegen die Zivilbevölkerung ausgeübt und Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Darüber hinaus kann Kleinwaffenkontrolle auch die Entwaffnung der Zivilbevölkerung beinhalten, bei der Waffen eingesammelt werden, um das Gewaltmonopol der Regierung zu stärken. Wenn parallel dazu keine wirksamen Maßnahmen ergriffen werden, um die Bevölkerung vor gewaltsamen Übergriffen von Armee und Polizei zu schützen, ist diese Form der Rüstungskontrolle hoch problematisch. Ohne die Auswirkungen von PSSM überbewerten zu wollen: Im schlimmsten Fall könnten sie tatsächlich ein Baustein sein, undemokratische, autoritäre Regime, deren Stütze ihr Sicherheitsapparat ist, zu unterstützen. Dies wäre eine Form von „Stabilisierung“, die verhindert, dass dringend notwendige politische und wirtschaftliche Reformen, die auch durch öffentlichen Druck erwirkt werden könnten, blockiert werden.

Unter welchen Bedingungen sollte eine Regierung Unterstützung für ein besseres Munitions- und Waffenmanagement erhalten? Wenn PSSM tatsächlich eine rein technische Angelegenheit wäre, um die Sicherheit lokaler Gemeinschaften – etwa vor unbeabsichtigten Detonationen – zu verbessern, wären politische Faktoren wie die Art eines Regimes unwichtig und die Frage wäre leicht zu beantworten: Jede Regierung, die darum bittet, sollte diese Unterstützung erhalten. Die Frage ist jedoch: Sollten PSSM-Trainings beispielsweise für das nordkoreanische oder syrische Regime durchgeführt werden? Die Autorin und die Autoren würden sich entschieden dagegen aussprechen. Das sind natürlich extreme Beispiele.

Statt Akeptanz des „illiberalen Friedens“ – menschenrechtsbasierte Kriterien für Stabilisierungsmaßnahmen

Die Kriege in Syrien, Sri Lanka und Tschetschenien sind ausgewählte Beispiele für einen spürbaren Trend, bei dem der wachsende Einfluss Russlands und Chinas faktisch zu einer Rückkehr zu militärischen Siegen und zum illiberalen Frieden geführt hat – anstelle von politischer Verhandlung und Einigung zwischen Vertreter*innen verschiedener Kriegsparteien. Westliche und andere Geldgeber riskieren, diesen Trend zu verstärken, wenn sie es an Menschenrechtsstandards in der militärischen und sicherheitstechnischen Kooperation mit Regimen mangeln lassen, die durch Militärputsche an die Macht gekommen sind oder mit Gewalt an ihrer Macht festhalten.

Im besten Fall können Stabilisierungsmaßnahmen Gewalt reduzieren und zu einem friedlichen gesellschaftlichen Wandel beitragen. Wie unsere Analyse zeigt, können jedoch auch Stabilisierungsinstrumente wie Polizeiausbildung oder PSSM negative Folgen für die Menschenrechte haben. Dies birgt die Gefahr, dass Stabilisierung zu einer kontraproduktiven Strategie wird. Um dies zu vermeiden, müssen die Intervenierenden sicherstellen, dass sie sich der potenziellen negativen Konsequenzen ihrer Aktivitäten – insbesondere in Bezug auf Menschenrechte und den Schutz der Zivilbevölkerung – bewusst sind, selbst wenn dahinter die besten Absichten stehen. Zweistündige Kurse zum Thema Menschenrechte für Sicherheitskräfte, deren Anwesenheit auf einer Liste abgehakt wird, sind nicht ausreichend.

Stattdessen sollten alle T&E-Maßnahmen in (Post-) Konflikt-Gesellschaften, autoritären oder nur nominell demokratischen Staaten konkrete Zeitpläne und Meilensteine sowie menschenrechtsbasierte Risikobewertungen beinhalten. Dazu sind Indikatoren nötig, die zu diesem Zweck entwickelt werden müssen und die Grenzen der Stabilisierungsmaßnahmen definieren.

Unabhängige Beobachtungsstellen sollten regelmäßige Bewertungen durchführen, wie diese Kriterien im jeweiligen Kontext eingehalten werden. Zudem sollten sie ihre Ergebnisse in periodischen und vordefinierten Abständen veröffentlichen. In Fällen, in denen Regierungen diese Standards hinsichtlich der Menschenrechtsbilanz ihrer Sicherheitskräfte eindeutig nicht erreichen, sollten die externen Stabilisierungsakteure bereit sein, ihre Unterstützung an Bedingungen zu knüpfen und Missbräuche zu sanktionieren. Sie sollten aber auch Anreize zur Erreichung der vereinbarten Ziele schaffen. Wenn jedoch die Fortführung solcher Aktivitäten das Risiko von Menschenrechtsverletzungen faktisch erhöht, muss die externe Unterstützung eingestellt werden.

Schließlich sollten die T&E-Aktivitäten mit einem erheblichen Engagement und gegebenenfalls parallelen Investitionen in die Reformen des Justiz-, Straf- und Sicherheitssektors einhergehen, einschließlich einer Reform des Militärjustizsystems. Nur wenn eine unabhängige Justiz gestärkt wird, können wir die strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte erwarten.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Jahresbericht 2019 des BICC in einer längeren Fassung.

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