Geschichte darf nicht zur Waffe werden

Auszug aus der Rede des deutschen Bundespräsidenten zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion
23. Juni 2021

"Es ergibt sich zwingend die Frage: Wäre es nicht für die Menschheit Zeit, Kriege grundsätzlich abzulehnen und im Verhältnis gegenseitiger Achtung auch noch so komplizierte Fragen friedlich zu lösen?

Mein Eindruck ist: Europa war einer Antwort schon einmal näher als heute. Es gab vor Jahrzehnten, trotz Spannungen und Blockkonfrontation, auch einen anderen Geist, auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Ich meine den Geist von Helsinki. Inmitten der gegenseitigen Drohung mit nuklearer Vernichtung entstand ein Prozess, der durch Anerkennung gemeinsamer Prinzipien und durch Zusammenarbeit einen neuen Krieg vermeiden wollte und vermeiden half. Dieser Weg, der bis zur Schlussakte von Helsinki führte, liegt jetzt fast ein halbes Jahrhundert zurück. Er war weder einfach noch gradlinig. Aber es war ein Weg, der wegführte von der Logik der Eskalation und der Gefahr wechselseitiger Vernichtung. Wenn Sie so wollen, ein langer und steiniger Weg. Aber viel mehr als steinige Wege fürchte ich Stillstand und Entfremdung.

Ich mache mir große Sorgen, dass die leidvolle Geschichte, an die wir heute erinnern, selbst mehr und mehr zur Quelle von Entfremdung wird. Wenn der Blick zurück auf eine einzige, nationale Perspektive verengt wird, wenn der Austausch über unterschiedliche Perspektiven der Erinnerung zum Erliegen kommt oder er verweigert wird, dann wird Geschichtsschreibung zum Instrument neuer Konflikte, zum Gegenstand neuer Ressentiments. Und deshalb bleibt meine Überzeugung: Geschichte darf nicht zur Waffe werden!

Denn uns eint doch dies: Wir erinnern nicht mit dem Rücken zur Zukunft, sondern wir erinnern mit dem Blick nach vorn, mit dem klaren und lauten Ruf: Nie wieder ein solcher Krieg! Ich weiß, dass ich diesen Ruf mit vielen, vielen Menschen in Polen und den baltischen Staaten, in der Ukraine, in Belarus und in Russland teile, in allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. An Sie, an die Bürgerinnen und Bürger all der Länder, die unter dem deutschen Vernichtungskrieg gelitten haben, richte ich heute mein Wort:

Lassen Sie und lassen wir nicht zu, dass wir einander von neuem als Feinde begegnen; dass wir den Menschen im Anderen nicht mehr erkennen. Lassen wir nicht zu, dass die das letzte Wort haben, die der nationalen Überheblichkeit, der Verachtung, der Feindschaft, der Entfremdung das Wort reden. Die Erinnerung soll uns einander näherbringen. Sie darf uns nicht von Neuem entzweien.

Hier, in diesem Haus, wurde das Kriegsende besiegelt. Für unser Land und für diese Stadt wird Karlshorst deshalb immer ein besonderer Ort sein – ein Ort der Erinnerung. Bei allen politischen Differenzen, bei allem notwendigen Streit über Freiheit und Demokratie und Sicherheit muss Platz sein für Erinnerung."

Die zentrale Gedenkrede zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion hielt der Bundespräsident am 18. Juni im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst, wo er die Ausstellung "Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg" eröffnete. Er ist der erste Bundespräsident, der das Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst besuchte. Das heutige Museum ist der historische Ort, an dem am 8. Mai 1945 die Kapitulation der deutschen Wehrmacht unterzeichnet worden ist.

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