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Ein Interview mit Dr. Samantha Ruppel über ihr Buch „Lokal verankerte Zivile Konfliktbearbeitung zwischen Partnerschaft und Machtungleichgewicht“ und ihre Forschung zum Zivilen Friedensdienst (ZFD). Es geht vor allem um die Machtdynamiken zwischen den verschiedenen Akteur*innen in der Friedensarbeit.
Am 10. Oktober 2023 gab es am IDOS – German Institute for Development and Sustainability einen „Book Launch und Roundtable“ zum neuen Buch von Dr. Samantha Ruppel „Lokal verankerte Zivile Konfliktbearbeitung zwischen Partnerschaft und Machtungleichgewicht“ herausgegeben vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Darauf basierend hat das folgende Interview stattgefunden – geführt von Bettina Wolff.
Sie haben in Ihrer Forschung die Arbeit des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) in Sierra Leone, Kenia und Liberia sehr kritisch betrachtet. Braucht es den ZFD überhaupt noch?
Dr. Samantha Ruppel: Ich denke, Formate wie den ZFD braucht es auf jeden Fall, wenn man die Punkte des gegenseitigen Austauschs und des Lernens voneinander in den Mittelpunkt stellt. Das ist die große Stärke des ZFD. Denn gerade in dieser globalisierten Welt, in der Konflikte multiperspektivisch sind, kann keine Organisation, kein Land, keine Region die Konflikte wirklich allein lösen – man muss zusammenarbeiten. Der ZFD bietet eine von vielen Möglichkeiten, gemeinsam an globalen Herausforderungen zu arbeiten, die sich lokal widerspiegeln. Die Frage ist dann natürlich: Wie genau sieht das in der Umsetzung aus? Da braucht es auf jeden Fall Austauschformate.
Beim Book Launch haben wir dieses Schaubild gesehen mit sehr vielen verschiedenen Trägern, Partnern, Geldgebern etc. Ist das denn effektiv?
Dr. Samantha Ruppel: Der ZFD ist komplex, weil es verschiedene Akteure gibt, die den ZFD alle unterschiedlich durchführen. Wenn man sich allerdings ansieht, wie viele Organisationen und Träger es in Deutschland insgesamt gibt, die irgendwie im Bereich Frieden arbeiten, sind die, die den ZFD durchführen, nur ein ganz kleiner Bruchteil. Deswegen ist es im Vergleich gar nicht so viel. Es ist auch eine gute Komplexität, die so ein Programm vielfältig macht. Natürlich wird dadurch auch die Vergleichbarkeit manchmal schwierig, da sich jede Organisation einen anderen Impact wünscht oder auch eine andere Herangehensweise hat. Allerdings bietet das im Idealfall die Möglichkeit zu schauen, welche Organisation aus Deutschland mit welcher Organisation vor Ort gut zusammenpasst – wo gibt es gemeinsame Werte, gemeinsame Vorstellungen? Sowohl hier in Deutschland als auch vor Ort gibt es durch die Komplexität der Organisation ein Netzwerk, um voneinander zu lernen, was ein ganz klarer Vorteil ist. Gerade auch für die Organisationen vor Ort kann die Vernetzung über eigene Akteurs-Netzwerke hinaus eine gute Möglichkeit sein, um neue Kontakte zu aufzubauen. Allerdings ist da auch immer die Frage, inwieweit das genutzt wird.
Welche Rolle spielen die Machtdynamiken dabei im Alltag?
Dr. Samantha Ruppel: Das ist sehr unterschiedlich – je nachdem, wie die Zusammenarbeit aussieht: ob es eine integrierte oder nicht integrierte Fachkraft ist, wie einzelne Projekte aussehen, mit wem vor Ort gearbeitet wird. Aber es macht einen Unterschied, dass eine externe Fachkraft dabei ist, die vor Ort mitarbeitet oder unterstützt bzw. berät – je nachdem wie das jeweilige Projekt aussieht. Zudem ist diese Fachkraft in der Regel eine Weiße Person aus Deutschland; das macht einen großen Unterschied. Ein konkretes Beispiel: Ein Projekt des ZFD findet in einem sehr ländlichen Raum statt, wo die Menschen keine Sprache sprechen, die die Fachkraft spricht, sondern verschiedene lokale Sprachen und Dialekte, sodass die Fachkraft gar nicht in den Dialog treten kann. Das heißt, es muss immer eine Person übersetzen. Und das bringt natürlich eine unheimliche Hierarchie rein, wenn die Fachkraft gar nicht direkt mit der Zielgruppe zusammenarbeiten kann. Zudem hat die Fachkraft in der Regel – wenn auch nicht immer – ein Auto und kommt mit diesem aus der nächstgrößeren Stadt in ein Projekt gefahren, macht dort etwas und fährt wieder. Sie hat ganz andere Möglichkeiten als die Zielgruppe, mit der gearbeitet wird.
Selbst wenn wir zum Beispiel von diesem ruralen Kontext weggehen und sagen: Schauen wir uns eine große Stadt an wie Nairobi, wo auch die Zielgruppen ganz andere Zugänge haben als vielleicht eine ganz ländliche Bevölkerung. Aber auch dort spielt ein Machtungleichgewicht in der Zusammenarbeit eine ganz große Rolle. Denn selbst wenn man sagt: Wir arbeiten als Fachkräfte gemeinsam mit unseren Partner*innen, egal ob integriert oder nicht. Dann muss man sich trotzdem immer ansehen: Wer bringt die Ausstattung mit? Und in der Regel sind das die Fachkräfte des ZFD, die eine gewisse Ausstattung mitbringen. Und in der Regel – nicht immer – machen sie auch das Finanzmonitoring und überwachen das Budget. Die Organisationen in Deutschland entscheiden dann letztendlich doch, wofür das Geld ausgegeben wird und wofür nicht – an welchen Schwerpunkten gearbeitet wird. Und das kann nicht immer im selben Maße von den Organisationen vor Ort mitbestimmt werden.
Welche Rolle spielt dabei das Machtgefälle auch aufgrund der kolonialen Geschichte?
Dr. Samantha Ruppel: Ich glaube, nicht nur die koloniale Geschichte ist ein Teil dieser Abhängigkeitsstrukturen, sondern auch die Geschichte der internationalen Zusammenarbeit – die natürlich auch Kolonialstrukturen aufbaut. Seitdem gerade in die Länder des Globalen Südens Geld für Friedens- und Entwicklungsarbeit fließt, sind einfach Abhängigkeiten geschaffen worden. Es gibt viele Organisationen, die nur bestehen können, weil sie Gelder aus dem Globalen Norden bekommen. Das ist natürlich eine Weiterführung von kolonialen Abhängigkeiten, aber nochmal in einer anderen Dimension. Denn es wird oft als empowernd dargestellt: Ja, wir geben Geld, die Organisationen können bestehen. Aber letztendlich ist es eine Abhängigkeit, die geschaffen worden ist über einen langen Zeitraum und die auch nicht so einfach aufgehoben werden kann. Denn wenn kein Geld mehr fließt, verlieren sehr viele Leute natürlich ihre Arbeit und ihre Existenzgrundlage. Deswegen ist es nochmal wichtig, darauf zu schauen: Warum gibt es eigentlich diese Abhängigkeiten?
Sie haben es auch „das Märchen der Partnerschaft“ genannt. Was bedeutet das konkret und was hat dies mit dem „local turn“ zu tun?
Dr. Samantha Ruppel: Der „local turn“ geht erst einmal davon aus, dass es wichtig ist, lokale Akteur*innen in den Vordergrund zu stellen. Er nimmt als Ausgangspunkt für Friedensaktivitäten, dass das Agenda-Setting durch diese lokalen Akteur*innen stattfindet. Das ist das theoretische Konstrukt, das Idealbild. Aber das ist nicht das, was in der Realität passiert. Es gibt gemeinsame Treffen, in denen vielleicht über Strategien und Themen gesprochen wird. Aber letztendlich ist es die deutsche Seite, die natürlich ein Interesse daran hat, was sie finanziert. Da werden bestimmte Themen und Projekte auch ablehnt und dafür andere auf die Agenda gesetzt. Das ist ja auch legitim, wenn man als Organisation oder als Land Geld in Projekte reinsteckt. Trotzdem wird immer wieder von Partnerschaft geredet und ganz oft auch von Partnerschaft auf Augenhöhe und es heißt, „wir arbeiten ganz gleichberechtigt“. Es ist nicht so sehr der Begriff der Partnerschaft, der an sich schwierig ist, sondern das unreflektierte Benutzen dieses Begriffs. Dass es einfach hingestellt wird als: Wir sind zwei gleichberechtigte Akteursgruppen – was ja einfach nicht der Fall ist. In der Realität gibt es eine große Organisation aus Deutschland, die zahlreiche Fachkräfte entsendet. Vor Ort wird dann mit einer oder ein paar Organisationen zusammengearbeitet. Das ist ja schon eine ganz andere Zusammenarbeit als wäre es eine genauso große Organisation vor Ort. Deswegen ist es auch betitelt als „das Märchen von der Partnerschaft“.
Was hat es dabei mit den Begriffen „lokal“ und „international“ auf sich?
Dr. Samantha Ruppel: Das sind Begriffe, die oft verwendet werden, die aber sehr, sehr schwammig sind. Wer ist wirklich lokal, wer ist wirklich international? Viele Fachkräfte, die auch schon lange vor Ort sind, sagen auch selbst: „Ich bin jetzt schon so lange hier, ich bin eigentlich schon ganz lokal.“ Wenn man sich dann einige Akteure vor Ort anschaut, gibt es auch Leute, die haben international studiert, einen internationalen Lebenslauf, sind jetzt wieder zurück in ihrem Herkunftsland und arbeiten nun dort. Sind sie lokal, sind sie nicht auch international? Das sind Begriffe, die immer mehr verschwimmen und auch immer mehr verschwimmen werden. Und ich glaube, dass es auch perspektivisch wichtiger wird, von solchen Begriffen wegzukommen und mehr auf die Fähigkeiten und Bedarfe einer Fachkraft zu schauen als zu sagen: Wir brauchen eine lokale oder eine internationale Fachkraft, sondern man braucht eine Fachkraft mit bestimmten Kompetenzen.
Wie zeitgemäß ist eigentlich noch dieses Konzept einer Fachkraft?
Dr. Samantha Ruppel: Ich glaube, der Begriff Fachkraft ist vielleicht nicht immer ganz der richtige, weil auch oft Personen entsendet werden, die das zum Beispiel direkt nach dem Studium als ihre erste Stelle machen. Da ist natürlich die Frage: Was bringt diese Person für ein Fachpraxiswissen mit außer dem aus dem Studium, wenn man bei einer Organisation arbeitet, in der die Leute zwanzig bis dreißig Jahre Arbeitserfahrung haben? Deswegen ist der Begriff dieser Fachkraft nicht mehr ganz zeitgemäß. Man kann aber immer voneinander lernen, über verschiedene Kompetenzen und Erfahrungen. Deswegen ist es wichtig, weiterhin Austausch zu betreiben, aber vielleicht nicht unbedingt nur von Deutschland in andere Länder. Stattdessen hätte man im Idealfall einen Pool von Personen weltweit, die verschiedene Kompetenzen haben, verschiedene Expertise mitbringen und man hat einen Pool von Projekten und kann das dann „matchen“ – unabhängig von Herkunft oder Nationalität.
Was hat es mit den im Buch beschriebenen „Frictions“ auf sich?
Dr. Samantha Ruppel: „Frictions“, das heißt Reibungspunkte. Unklarheiten, Unstimmigkeiten gibt es immer, wenn Menschen oder Organisationen zusammenarbeiten – und deshalb auch ganz natürlich im ZFD. Wenn Personen aus verschiedenen Kontexten, verschiedenen Hintergründen zusammenarbeiten, werden Konfliktthemen natürlich nochmal größer. Das können persönliche Themen sein, das können inhaltliche Reibungen sein, das können einfach Missverständnisse sein, die entstehen. Also auf ganz vielen verschiedenen Ebenen, die aber alle die Zusammenarbeit irgendwie meist negativ beeinflussen – negativ, weil das oft nicht aufgearbeitet wird. Das ist ein ganz spannendes Thema, dass oft so eine defensive Haltung gewählt wird, dass man einfach mit diesen Herausforderungen weiterlebt und oft nicht den Kern angeht. Denn das sind auch ganz alltägliche, kleine Sachen. Es ist nicht der riesengroße Konflikt, der irgendwie aufgearbeitet wird, sondern es sind Dinge in der alltäglichen Zusammenarbeit. Und da ist es einfach wichtig, nochmal genauer hinzuschauen. Denn da können alle beteiligten Akteure und Organisationen einfach viel mehr für die Zusammenarbeit lernen: Was ist wirklich wichtig? Was ist jeder Person persönlich für die Arbeit wichtig, um diese auch gut machen zu können? Was sind denn die Herausforderungen und wie können diese dann produktiv genutzt werden, um daraus am Ende einen Mehrwert zu ziehen?
Welche Rolle spielen dabei (inter-)kulturelle Erfahrungen?
Dr. Samantha Ruppel: Solche Konflikte oder „Frictions“ werden in jeder Kultur anders angesprochen. Manchmal werden sie sehr direkt angesprochen, manchmal gar nicht. Manchmal wird vielleicht auch eine Abwehrhaltung eingenommen, um zu zeigen: Man hat damit ein Problem. Und das kann natürlich sein. Aber in so einer Zusammenarbeit, wo eben Akteure mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen zusammenarbeiten, ist es umso wichtiger, dass das begleitet wird. Das sind keine Sachen, die vielleicht auch Fachkraft und Organisation zusammen lösen können, sondern es braucht eben eine externe Begleitung, die ins Gespräch gehen kann. Denn beide Seiten haben ihre Berechtigung. Sagen wir, wir haben eine deutsche Fachkraft, die das ganz direkt ansprechen möchte und vielleicht eine Partnerorganisation, die sagt: Wir zeigen Widerstand und wir machen das nicht. Das ist ja auch eine ganz häufige Form, den Konflikt indirekt anzusprechen – über Widerstand. Und da ist es wichtig, einfach extern nochmal draufzuschauen und dann gemeinsam an Lösungen zu arbeiten, die auch für beide Seiten als Lösungsweg gut akzeptiert sind.
Wie würden Sie sich so eine Begleitung dieses Prozesses auch aufgrund Ihrer Forschungsergebnisse vorstellen?
Dr. Samantha Ruppel: Was wichtig ist, wenn man in diesem Konstrukt mit Partnern vor Ort zusammenarbeitet, ist, dass die Partner*innen die gleichen Möglichkeiten bekommen wie die Fachkräfte, die entsendet werden. Das heißt: Die Vorbereitung ist derzeit für die deutschen Fachkräfte sehr viel intensiver als für die Partner*innen. Es wäre gut, da eine ähnliche Vorbereitung zu haben, die Person mit gleichem Wissen starten zu lassen und auch gleich zu begleiten. Es gibt für viele deutsche Fachkräfte die Möglichkeit, Coachings oder Begleitung in Anspruch zu nehmen – das gibt es für die Partner*innen vor Ort gar nicht oder nur sehr, sehr gering. Es wäre wichtig, einfach diese Coaching-Prozesse zu öffnen und das für alle, die an dieser Arbeit beteiligt sind, anzubieten, und dann auch gemeinsam in den Dialog zu gehen. So ein bisschen wie Paartherapie vielleicht: Wo kann gemeinsam an Problemen und Herausforderungen gearbeitet werden? Ich glaube, eine große Empfehlung ist auch, dieses Konstrukt Nord-Süd-Entsendung aufzulösen und stattdessen wirklich nach Kompetenzen zu entsenden.
Würden Sie sagen, diese partnerschaftliche Arbeit ist letztlich mindestens so wichtig oder sogar wichtiger als die Fachexpertise?
Dr. Samantha Ruppel: Ich würde sagen, das kommt ein bisschen darauf an, mit welchem Ziel und welcher Motivation man diese Arbeit macht. Man kann natürlich sagen, man schickt eine Fachkraft, die alleine irgendwie ihre Arbeit macht – losgelöst von dem, was die Organisation macht – und auf dem Papier erstmal super Ergebnisse hat. Wenn die Motivation z.B. ist, eine gute Evaluation von irgendeinem Workshop zu bekommen, kann das gut funktionieren. Aber wenn man den Anspruch hat, langfristig gemeinsam zu arbeiten, auch nachdem eine bestimmte Fachkraft wieder weg ist, dann ist dieses Arbeiten an der Zusammenarbeit vielleicht sogar wichtiger als die eigentliche Arbeit, ja.