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Aserbaidschan greift Armenien an, die EU reagiert nicht und entscheidet sich für den Schutz einer Öl-Diktatur – und gegen Menschenrechte.
Die Eskalation im Schatten des Krieges gegen die Ukraine hatte sich angedeutet: Am Dienstag um Mitternacht startete Aserbaidschan den schwersten Angriff auf die Republik Armenien – unabhängig von der Kontaktlinie zu Berg-Karabach – nicht nur seit dem letzten Krieg im Jahr 2020, sondern in der gesamten Geschichte des Konflikts. Einige armenische Städte und mehr als ein Dutzend Dörfer gerieten unter schweren Artillerie- und Drohnenbeschuss. Dazu attackierten aserbaidschanische Spezialeinheiten militärische Stützpunkte an Land. Sie konnten neue Stützpunkte besetzen, die ihnen einen besseren Überblick, wenn nicht gar die totale Kontrolle über Armeniens strategische Kommunikationsverbindungen zum südlichen Teil des Landes, nach Berg-Karabach und in den Iran ermöglichen. Ab Mittwochabend, einen Tag später, 20 Uhr gilt ein Waffenstillstand. Bei dem Angriff wurden 100 Armenier getötet. Die aserbaidschanische Seite berichtet von 54 toten Soldaten.
Die internationale Reaktion hielt sich – im Gegensatz zur Trauer und Frustration der armenischen Regierung und Öffentlichkeit – in Grenzen. Der armenische Premierminister Nikol Pashinyan telefonierte mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, US-Außenminister Anthony Blinken und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Von Russland und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) forderte er Sicherheitsgarantien. Das von Russland dominierte Militärbündnis OVKS lieferte keine adäquate Reaktion und beschränkt sich darauf, eine Untersuchungsmission zu entsenden und eine Arbeitsgruppe zur Überwachung der Situation einzurichten. Frankreich kündigte immerhin an, die Angelegenheit vor den UN-Sicherheitsrat zu bringen. US-Außenminister Blinken forderte den aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew in einem Telefonat dazu auf, die Feindseligkeiten einzustellen, während das indische Außenministerium „den Aggressor zur sofortigen Einstellung der Feindseligkeiten aufrief“. Die Aufforderungen an beide Seiten von führenden Politikern und internationalen Organisationen blieben allerdings wirkungslos; es war Armenien, das in der Zwischenzeit den aserbaidschanischen Angriff innerhalb seiner international anerkannten Grenzen zurückdrängte.
Nur zwei Wochen vor dem Angriff hatten sich die Staats- und Regierungschefs der beiden Länder in Brüssel getroffen, um unter Vermittlung des EU-Ratspräsidenten Charles Michele über die Normalisierung der Beziehung zu beraten. Obwohl man sich darauf einigte, die Verhandlungen über ein Friedensabkommen zu beschleunigen, verlangt Aserbaidschan weiterhin die Umsetzung seiner Bedingungen, die Armeniens rote Linie augenscheinlich weit überschreiten: die vollständige Rücknahme der Sicherheitsforderungen für Armenierinnen in Berg-Karabach (ganz zu schweigen von ihrem Status), die Abrüstung der dortigen lokalen armenischen Kräfte und die Bereitstellung souveräner Durchgänge zur aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan über armenisches Territorium – faktisch wäre das eine direkte Landverbindung mit der Türkei. Die aktuelle Offensive soll Armenien erpressen, damit es Bakus Bedingungen akzeptiert, denn die Taktik der Zwangsverhandlungen erwies sich in der Vergangenheit bereits als erfolgreich und nötigte die armenische Regierung dazu, sich zwischen wesentlichen Zugeständnissen oder einem groß angelegten Krieg zu entscheiden.
Die Offensive dieses Ausmaßes wurde durch eine Reihe externer Faktoren ermöglicht. Erstens profitiert Baku von der uneingeschränkten Allianz mit der Türkei, die Aserbaidschans regionale Dominanz mit militärischen Mitteln fördert und auch die aktuelle Offensive unterstützt.
Alijew profitiert auch, zweitens, von der Knappheit fossiler Brennstoffe und der damit einhergehenden Abhängigkeit Brüssels, was ihn nach den Worten der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu einem „zuverlässigen und vertrauenswürdigen Partner“ macht, unabhängig vom Verhalten seines Landes oder seiner Gemeinsamkeiten mit anderen Diktatoren, denen sich Europa angeblich widersetzt. Erst im Juli wurde die Absicht vereinbart, dass Aserbaidschan künftig noch mehr Gas an die EU liefern soll.
Drittens spielt auch Russlands Scheitern an der Charkiw-Front Baku in die Hände, denn so muss es sich nicht um eine russische Einmischung sorgen, da Moskau mit seiner eigenen Versorgung, seinem Personal und seiner Planung beschäftigt ist.
Innenpolitisch könnte Alijew davon angetrieben sein, die öffentliche Aufmerksamkeit von der wachsenden Inflation, den antidemokratischen Reformen und der nachlassenden Euphorie über den Sieg von 2020 abzulenken.
Die armenische Armee erholt sich noch immer von den Auswirkungen des letzten Krieges von 2020, und so scheint internationaler Druck das einzige Mittel zu sein, das Alijews Diktatur davon abhalten könnte, sich alle paar Monate einen neuen Teil Armeniens gewaltsam zu nehmen und die wichtigsten nationalen Sicherheitspfeiler Armeniens durch endlose erzwungene Zugeständnisse kontinuierlich zu schwächen.
Die armenischen Behörden und Parteien kündigten nach Kriegsende im Jahr 2020 und in ihrem Wahlkampf eine Agenda der Friedenszeit an. Viele Einwohner fassen diese als Defätismus auf und kritisieren die Bereitschaft, den türkischen und aserbaidschanischen Forderungen nachzugeben. Am Mittwoch räumte Premierminister Pashinyan vor dem Parlament ein, dass diese Agenda ergebnislos war. Schon vor der jüngsten Eskalation hatte er erklärt, es gebe keine Fortschritte im Normalisierungsprozess mit der Türkei und Aserbaidschan, „weil sie zu viel von uns verlangen oder glauben, dass wir zu viel von ihnen verlangen“. Da Armenien diese Forderungen ohne internationale Unterstützung weder politisch noch militärisch abwehren kann, bleibt dem Land nichts anderes übrig, als kurzfristig zu planen – die To-do-Liste besteht dabei lediglich aus einem Punkt: den Krieg jeden Tag aufs Neue zu verhindern oder zumindest zu verzögern.
Der Verlauf der Dinge in den vergangenen Monaten und dieser beispiellose Angriff auf die territoriale Integrität Armeniens zeigen, dass sich das Zeitfenster, in dem wenigstens einige der Sicherheitsprobleme in der Region gelöst und ein Schritt in Richtung Frieden getan werden könnte, langsam aber sicher schließt. Der Sicherheitsprozess zwischen Armenien und Aserbaidschan (und im weiteren Sinne auch der Türkei) war geprägt von Zwangsverhandlungen oder direkter Erpressung, was sich als äußerst lohnend für Baku erwies, da keinerlei Kosten in Form von Sanktionen, Warnungen, rechtlichen Schritten oder gar Verurteilungen entstanden – man kann also getrost damit rechnen, dass die Taktik fortgesetzt wird.
Einige aserbaidschanische Medien und Expertinnen versuchen, dem westlichen Publikum das Narrativ zu verkaufen, Aserbaidschan würde eine weitere Front gegen Russland eröffnen; so soll Unterstützung gewonnen oder zumindest Kritik zum Schweigen gebracht werden. Das Problem an dem Narrativ ist: Alijew war nur einen Tag vor dem 24. Februar in Moskau, um eine strategische Partnerschaft mit Wladimir Putin zu unterzeichnen.
Dabei sprechen die weitestgehend ausbleibenden Reaktionen aus der EU Bände: Europa wurde mit einer alternativen, aber sehr fragwürdigen Energiequelle aus einer Diktatur gelockt und Brüssel stellt sich nun mit seiner Untätigkeit auf die Seite des globalen Aufstiegs des Autoritarismus, der einer „regelbasierten Weltordnung“ zuwiderläuft.
In der Praxis könnte Brüssel auf das Auslösen eines Krieges ohne vorangehende Provokation mit diplomatischem Druck reagieren und Baku in die Schranken weisen, indem es die Verhandlungen über eine strategische Partnerschaft zwischen der EU und Aserbaidschan stoppt, die Ausfuhr militärischer Güter und Technologien oder Güter mit Doppelfunktion nach Aserbaidschan und in die Türkei verbietet, das europäische Vermögen der Alijew-Dynastie einfriert, die Mitgliedschaft Aserbaidschans in der Östlichen Partnerschaft aussetzt und die Zusammenarbeit im Energiebereich an die Beziehungen zu Armenien und die Menschenrechtslage koppelt. Doch das tut die EU nicht – sie will mehr Gas aus Aserbaidschan.
Dieser Beitrag erschien auch im IPG-Magazin, aus dem Englischen von Anne Habermeier