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Bergkarabach – Exodus der Armenier*innen

Zehntausende flüchten vor aserbaidschanischer Militäroffensive
28. September 2023
Schutzsuchende Armenier*innen in Stepanakert; die Stadt ist mittlerweile verlassen. Foto: NK Human Rights Ombudsman/defender office

Monatelang wurde die armenischstämmige Bevölkerung in Bergkarabach durch eine Blockade ausgehungert. Nach der Eroberung der Enklave durch Aserbaidschan flüchteten jetzt Zehntausende. Die Angst vor Pogromen wächst. Wie realistisch ist die Hoffnung auf einen gerechten, anhaltenden Frieden?

Die aktuelle Lage ...

Ein zentraler Konflikt in der europäischen Nachbarschaftsregion, der bereits in Sowjetzeiten schwelte und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu zwei Kriegen 1991–94 und 2020 führte, brach am Morgen des 19. September 2023 erneut aus. Aserbaidschan startete eine militärische Offensive gegen die abtrünnige Region Bergkarabach, die mehrheitlich von Armenier:innen bewohnt wird. Bergkarabach hatte sich bereits in den Neunzigerjahren unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker für unabhängig erklärt, wurde aber nie international anerkannt. Aserbaidschan setzte seine Ansprüche nun mit massiver militärischer Gewalt durch, verstieß dabei gegen die Vereinbarungen des 2020 erzielten Waffenstillstandsabkommens, nahm Tote und Verletzte unter der Zivilbevölkerung in Kauf.

Am 21. September 23 erklärte der aserbaidschanische Präsident Aliev den Sieg und verkündete die Entwaffnung und „Wiedereingliederung“ der Bevölkerung. Aber bis heute verweigert Aserbaidschan den etwa 60–90.000 Karabach-Armenier:innen Sicherheitsgarantien. Vor dem historischen Hintergrund beidseitiger ethnischer Säuberungen und dem darin begründeten gegenseitigen Misstrauen und Hass stellt dies eine akute Bedrohung für die menschliche Sicherheit der Armenier:innen in Bergkarabach dar. Rechtsstaatliche Verfahren und die Achtung der Menschenrechte sind in Aserbaidschan nicht gewährleistet, die Handlungsspielräume für die Zivilgesellschaft komplett geschlossen (s. a. Brot für die Welt Atlas der Zivilgesellschaft 2023, S.11). Tausende Karabach-Armenier:innen haben die Region verlassen. Wer konnte, sucht Schutz in Armenien. Aber Fahrzeuge und Treibstoff fehlen und die Zukunft der Zurückbleibenden ist unklar. Die Angst vor gewaltsamen Übergriffen und Verfolgung wächst.

Gewalt muss verurteilt werden

Schon zu Beginn des Jahres erhoben sich viele Stimmen, die ethnische Säuberungen befürchteten. So warnte etwa Luis Moreno Ocampo, ehemaliger Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof, in einer im August 2023 veröffentlichten Studie vor einem Genozid an der armenischstämmigen Bevölkerung Bergkarabachs.

Die Gewalt in Bergkarabach und das massive militärische Vorgehen Aserbaidschans sind zu verurteilen. So haben es auch die Evangelische Kirche in Deutschland, die Deutsche Bischofskonferenz und die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in ihrer gemeinsamen Pressemitteilung vom 20.09.2023 ausgedrückt.

… und Befürchtungen für die Zukunft

Die ersten Schutzsuchenden haben Armenien bereits erreicht und schon jetzt zeichnet sich ab, dass dort noch viel mehr Menschen aus Bergkarabach stranden werden. Die Hilfsbereitschaft ist groß, aber die demokratisch orientierte Regierung des 2018 gewählten Regierungschefs Nikol Pashinian steht innenpolitisch bereits unter großem Druck und droht nun noch weiter destabilisiert zu werden.

Zivilgesellschaftliche und kirchliche Partnerorganisationen von Brot für die Welt bereiten sich so gut es geht auf Geflüchtete aus Bergkarabach und deren Versorgung vor. Die Geflüchteten, die jetzt täglich in Armenien ankommen, müssen versorgt werden. Hinzu kommen die Menschen, die bereits während des Kriegs 2020 und der letzten gewaltsamen Auseinandersetzungen vom September 2022 geflüchtet sind – auch deren humanitäre Situation ist prekär. Die Herausforderung, weitere Kapazitäten für neue Flüchtlinge zu schaffen, die dann vermutlich auch langfristig in Armenien bleiben werden, ist groß.

Angst vor Racheakten

Ferner ist zu befürchten, dass es in Bergkarabach zu Racheakten an den Armenier:innen kommen wird. Schon jetzt wird laut Berichten aus der Region deutlich, dass die eingerichteten humanitären Korridore keine sicheren Fluchtwege darstellen. Inwieweit Aserbaidschan der Bevölkerung einen freien Abzug gewährt, ist ungewiss. In den sozialen Medien kursieren aserbaidschanische Hassreden, Aufrufe zu Frauen- und Kinderschändung und Mord an den verhassten Armenier:innen.

Mit dem Exodus der Karabach-Armenier:innen droht auch eine weitere Destabilisierung in Armenien, die sich auf die gesamte Region auswirkt.

Das Risiko eines Flächenbrands: geostrategische Gemengelage und Handlungskorridore

In Armenien rechnet man darüber hinaus damit, dass Aserbaidschan möglicherweise in nächster Zeit einen weiteren Angriffskrieg führen wird, dieses Mal direkt auf dem Territorium Armeniens, um einen Verbindungskorridor zur aserbaidschanischen Exklave Nachitchevan und schließlich auch einen direkten Handelsweg in die Türkei durchzusetzen.

Internationale Expert:innen äußerten bereits im Vorfeld der Offensive die Befürchtung, dass sich ein militärischer Konflikt auf das souveräne Hoheitsgebiet Armeniens ausweiten könnte – wie bereits im September 2022 geschehen – und zugleich ethnische Säuberungen an Armenier:innen in Bergkarabach möglich wären. Um dies zu verhindern, müsse die internationale Gemeinschaft im Konfliktfall rasch und entschieden reagieren, ansonsten drohe ein Flächenbrand. Denn die Region ist geostrategisch auch für die Türkei und den Iran interessant.

Was ist zu tun?

Die Sorge um anhaltende Gewalt und Menschenrechtsverletzungen an den Karabach-Armenier:innen wie auch ein Übergreifen der militärischen Eskalation durch Aserbaidschan auf das armenische Territorium ist weiterhin groß. Uns erreichen täglich Hilferufe unserer Partnerorganisationen aus Armenien und von zivilgesellschaftlichen Gruppen in Bergkarabach.

In diesen Apellen fordern sie die internationale Gemeinschaft und Deutschland sehr konkret dazu auf, die aserbaidschanische Regierung an weiterer Anwendung von militärischer Gewalt zu hindern, die Friedensverhandlungen zwischen Aserbaidschan und den Vertreter:innen aus Bergkarabach, die in dem Ort Yevlax begonnen haben, zu begleiten und durch Vermittlung zu unterstützen.

Menschenrechtsverletzungen müssen verhindert werden

Sie fordern, sollte sich die Vertreibung und Zwangsumsiedlung nicht verhindern lassen, die aserbaidschanische Regierung zu verpflichten, eine sichere Passage für die armenische Bevölkerung zu gewährleisten und dies umfassend zu überwachen. Dies müsse auch die systematische Meldung und Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen durch die aserbaidschanische Regierung beinhalten.

Die Bundesregierung darf in ihrem Engagement für den Schutz der Karabach-Armenier:innen und Friedensbemühungen nicht nachlassen. Sie sollte mit allen Kräften darauf hinwirken, dass die Energiepartnerschaft der EU mit Aserbaidschan überprüft und gemachte Zusagen für Gasverträge ausgesetzt werden. Deutschland, die EU und alle Verbündeten sollten die Reformbemühungen und Westorientierung der demokratisch orientierten Regierung Pashinians unbedingt weiter unterstützen und eine langfristige Förderung von Frieden und Entwicklung sowie Perspektiven für die armenische Bevölkerung sichtbar machen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 28.09. auf der Website von Brot für die Welt.

Die Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung (FriEnt) ist ein Zusammenschluss von staatlichen Organisationen, kirchlichen Hilfswerken, zivilgesellschaftlichen Netzwerken und politischen Stiftungen.

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