Helena Speidel, Friedensfachkraft des forumZFD in Jordanien, schildert ihre Eindrücke aus einem Land im Shutdown. Trotz aller Schwierigkeiten, die die Ausbreitung des Corona-Virus für das Leben der Menschen in Jordanien bedeutet, gibt es auch Grund zur Hoffnung.
Dieser Blogbeitrag wurde ursprünglich vom ForumZFD veröffentlicht. Den Originalbeitrag finden Sie hier.
Ich schreibe diesen Artikel von meinem Wohnzimmer aus, während draußen die Vögel zwitschern. Heute Morgen konnte ich um 7.00 Uhr sogar einen Hahn krähen hören. Gerade eben fährt ein Lastwagen mit Pfandgasflaschen vorbei, den man daran erkennt, dass aus ihm lautstark eine Beethoven-Sonate ertönt. Das erinnert ein wenig an den Eiscremewagen, den ich aus meiner Kindheit kenne. Hören wir den Wagen, dann öffnen wir das Fenster zur Straße und signalisieren dem Fahrer, wie viele Gasflaschen wir austauschen möchten. Er stoppt den Wagen und trägt die Gasflaschen in die jeweiligen Wohnungen hinauf. Auf diese Art wird der Großteil der Stadt mit Gas beliefert, das alle zum Kochen benötigen. Ich frage mich, wie die Fahrer*innen alle Fenster im Blick behalten können. Aber es funktioniert.
Die Stadt ist gespenstisch still
Dass ich all diese Geräusche mitten in Amman überhaupt hören kann, bewirkt der landesweite Shutdown. Jordaniens Hauptstadt Amman ist auf Hügeln gebaut, die Stadtteile unterteilen sich danach. Jeder Hügel (auf Arabisch Jabal) hat einen anderen Namen. Ich wohne in Jabal al ´L Weibdeh, einem der ältesten Stadteile Ammans und beinahe im Zentrum der Stadt. Von meiner Wohnung aus blicke ich auf das Tal, durch das eine der Hauptverkehrsadern direkt nach Downtown führt. Normalerweise gibt es hier immer ein lautes Grundrauschen durch den immensen Verkehr, der vom Tal nach oben schallt. Durch den Shutdown ist dieser Geräuschpegel so gut wie verschwunden. Die Stadt ist gespenstisch still. So still, dass ich morgens zur Hauptverkehrszeit die Hähne krähen hören kann. In einer Stadt mit vier Millionen Einwohner*innen.
Seit beinahe vier Wochen dauert dieser Zustand schon an. Am 17. März rief König Abdullah II. in Jordanien den Ausnahmezustand und das damit zusammenhängende Standrecht aus. Zehn Tage später gab der Premierminister Omar Razzaz in einer Pressekonferenz den landesweiten Shutdown mit totaler Ausgangssperre bekannt. Am nächsten Morgen um 7.00 Uhr wurde er in allen Städten mit Sirenenbeschallung eingeläutet. Für die nächsten vier Tage durfte mit Ausnahme vom Militär, Polizei und Gaslieferant*innen niemand mehr seine Wohnung verlassen. Gleich am ersten Abend der Ausgangssperre wurden mehrere hundert Menschen festgenommen, die sich nicht an die Richtlinien gehalten hatten. Ihnen droht eine bis zu einem Jahr andauernde Haftstrafe. Zu diesem Zeitpunkt gab es weniger als 10 bestätigte Covid-19 Fälle in Jordanien.
Vertrauen in die Regierung wurde gestärkt
Am Vorabend der vollständigen Ausgesperre herrschte große Aufbruchstimmung in Amman. Seitdem sind die Stadtgrenzen geschlossen, niemand kann nach Amman ein- oder aus der Stadt ausreisen. Das gleiche gilt für die anderen Städte in Jordanien. Menschenmassen pilgerten in die Supermärkte, um sich für unbestimmte Zeit mit Lebensmitteln und Haushaltswaren einzudecken. Die Regierung zog aus diesem Verhalten Konsequenzen. Statt für einen kurzen Zeitraum alle Lebensmittelgeschäfte zu öffnen und damit quasi Massenveranstaltungen zu provozieren, entschloss sich die Regierung am vierten Tag der Ausgangssperre, die Einschränkungen zu lockern.
Dass die sehr kontaktfreudige jordanische Gesellschaft die Ausgangsperre mit ihren Folgewirkungen beinahe widerstandslos annimmt, überrascht ein bisschen. Es hängt wohl mit der Herangehensweise der Regierung zusammen. Jeden Abend tritt ein*e hochrangige*r Politiker*in oder der König selbst bei einer Pressekonferenz im Fernsehen auf, um sachlich über alle mit Covid-19 zusammenhängenden Entwicklungen, Befunde und Maßnahmen in Jordanien zu informieren. Diese Transparenz hat das in den vergangenen Jahren gesunkene Vertrauen in die Regierung seitens der Bevölkerung wieder gestärkt. Gleichzeitig hat Jordanien aus der Vergangenheit gelernt, bei Krisen unverzüglich zu reagieren. Basierend auf Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bringt die Regierung der Bevölkerung Verhaltensregeln und Präventionsmaßnahmen näher.
Daneben versicherte die Regierung auch, über genügend Essens- und Gasvorräte für die nächsten sechs Monate zu verfügen. Die Ressourcen seien vorhanden, aber die Lieferung sei schwierig. Um die Nahrungsmittellieferkette aufrecht zu erhalten, bekamen viele landwirtschaftliche Betriebe Arbeitsgenehmigungen. Die Angestellten auf den Höfen arbeiten weiterhin, damit das Land mit frischen Lebensmitteln beliefert werden kann. Mit dem heutigen Tag dürfen auch die Menschen in speziellen geografischen Industriezonen Jordaniens wieder ihre Jobs antreten. Für Nicht-jordanische Mitarbeitende der Textilindustrie gilt dies ab morgen, vorausgesetzt sie wohnen auch in diesen Zonen, denn die allgemeinen Mobilitäts-Einschränkungen gelten weiterhin.
„Migrant Workers“ trifft die Krise am meisten
Die Angestellten in den Industriezonen zählen zu den sogenannten migrant workers. Sie verfügen nicht über die jordanische Staatsbürgerschaft und galten bisher mit den nicht registrierten Geflüchteten als die am meisten von der Krise betroffene Bevölkerungsgruppe. Denn sie tauchen in der Bevölkerungsstatistik nicht auf und werden damit in der Versorgungsinfrastruktur übersehen. Die Lockerung rettet viele, weil sie vom Tageslohn abhängig sind. Die meisten migrant workers verdingen sich jedoch im informellen Sektor unter prekären Bedingungen. Immigrierte Kindermädchen, Haushaltshilfen, Bauarbeitende und viele andere haben ihre Arbeit verloren und sind sozial überhaupt nicht abgesichert. Daher brauchen viele von ihnen jetzt dringend die Unterstützungsnetzwerke in ihren Communities und Spenden. Denn während die rund sieben Millionen Jordanier*innen im Land mit (wenn auch stark eingeschränkter) Hilfe der Regierung rechnen können, trifft dies auf die weiteren drei Millionen Einwohner*innen nicht zu. Viele von ihnen sind aus Syrien, Irak, Sudan oder Jemen geflüchtet und nach Jordanien gekommen. Palästinensische Staatsbürger*innen in Jordanien erhalten ebenfalls keine zusätzliche Unterstützung.
Mit der Ausgangssperre wächst die allgemeine Anspannung in der Bevölkerung. Fälle von häuslicher Gewalt mehren sich. Oft bewohnt eine achtköpfige Familie eine Zweizimmerwohnung. Während sich vor der Krise selten alle zusammen für mehrere Stunden in der gleichen Wohnung aufhielten, sind sie nun dazu gezwungen, auf engstem Raum zu verbleiben. Im Vergleich dazu sind wir als entsandte Friedensfachkräfte, die wir oft zu zweit oder alleine wohnen, sehr privilegiert.
Bürgerinitiativen bilden das Rückgrat der Gesellschaft
Einige zivilgesellschaftliche Organisationen bemühen sich ebenfalls darum, Betroffenen zu helfen. Eine unserer Partnerorganisationen (RAFD) im Norden des Landes verteilte kurz vor der totalen Ausgangssperre Hilfspakete an Bedürftige in ihrer Community in Mafraq und sammelt seitdem Spenden. Solche und ähnliche Bürgerinitiativen bilden in der gegenwärtigen Situation in Jordanien das Rückgrat der Gesellschaft. Leider fehlt vielen Organisationen das Geld oder die Strukturen, um solche Aktionen durchzuführen. Damit derartige Initiativen möglich sind, müssen zivilgesellschaftliche Organisationen wie RAFD gestärkt werden. Das möchten wir als Friedensfachkräfte in Jordanien leisten.
Zwei unserer Partnerorganisationen arbeiten in der Region Irbid, im Nordwesten Jordaniens. Momentan befindet sich diese wieder in einem totalen Shutdown, nachdem mehrere Einwohner*innen die Ausgangssperre nicht respektiert hatten. Als Konsequenz übernahm das Militär wieder die Kontrolle über die Region und patrouilliert mit Soldat*innen und Sicherheitskräften. Unsere Partnerorganisationen leidet unter dieser Situation, die die Mitarbeitenden besonders psychisch sehr belastet. Als Partner*innen versuchen wir momentan unser Bestes, um sie in dieser Lage zu unterstützen.
Der Himmel über Amman ist blau
Auch das nationale Wirtschaftsforum diskutiert gegenwärtig lebhaft, was die Zivilgesellschaft in Jordanien leisten kann. Es wird auch ein finanzielles Hilfspaket für lokale zivilgesellschaftliche Organisationen im Land erwogen. Das würde sie entlasten oder gar vor dem Ruin retten. Um nach der Krise wieder zur Normalität zurückzufinden, veröffentlichte dasselbe Forum in den letzten Tagen einige Empfehlungen, die nun das Parlament diskutiert.
Für den Moment kann man der Situation zumindest auch etwas Positives abgewinnen: Nach all den wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, die die Bevölkerung im letzten Jahrzehnt durchleben musste, entwickelt sich durch das entschiedene Handeln der Regierung gegenüber der Corona-Pandemie ein wiedergeborener Stolz auf das Land. Das zeigt sich zum Beispiel in den sozialen Netzwerken oder daran, dass Passanten Soldat*innen mit kleinen Aufmerksamkeiten beschenken. Auf den Straßen sowie in sozialen Netzwerken hört man: „Stay in Jordan, it is very safe“. Dank des allgemeinen Fahrverbotes schillert zudem der normalerweise gräulich matte Himmel jetzt tiefblau über ganz Amman.
Update: Mittlerweile wird lediglich freitags (Wochenende für alle) eine vollständige Ausgangssperre angeordnet. An allen anderen Tagen dürfen Bürger*innen bis 19 Uhr aus dem Haus gehen. Auch Fahrzeuge dürfen wieder fahren. Dabei wechseln sich Fahrzeuge, deren Nummernschilder in geraden Ziffern enden, mit Fahrzeugen, deren Nummernschilder mit ungeraden Ziffern enden, täglich ab. Damit soll vermutlich verhindert werden, dass Menschen mit ihrem Auto zu ihren Familien fahren um dann dort zu übernachten, da sie am darauffolgenden Tag nicht mit ihrem Fahrzeug fahren können.