Die Zukunftsvision der nepalesischen Regierung ist eindeutig: In 12 Jahren möchte Nepal zu einem inklusiven Wohlfahrtsstaat prosperieren, so hat sie es in ihrem Status- und Planungsbericht zur Agenda 2030 festgehalten. Die gegenwärtige Regierungspraxis bleibt jedoch für einen Großteil der Bevölkerung hinter ihren Erwartungen zurück. Ob dies langfristig zum sozialen Frieden in Nepal beiträgt, ist fraglich.
Impuls-Beitrag von Sonja Vorwerk-Halve, Vertreterin der GIZ im FriEnt Team
2018 ist das Jahr der Hoffnung für viele Bürger*innen in Nepal (gewesen). Nach jahrelangen politischen Querelen sind die friedlichen Wahlen, der Wahlsieg des linken Bündnisses und die daraus resultierende stabile Regierung eine gute Ausgangssituation, um Regierungsversprechen für eine gerechtere Gesellschaft einzulösen. Die nepalesische Regierung hat eine große Zukunftsvision, die sie im Status- und Planungsbericht zu den Sustainable Development Goals der nepalesischen Regierung (2017) beschreibt. Dort heisst es: “We envision Nepal as an enterprise-friendly middle-income country by 2030, peopled by a vibrant and youthful middle-class living in a healthy environment, with absolute poverty in the low single digits and decreasing.“ Die Regierung setzt Schwerpunkte in Handlungsfeldern wie Tourismus, saubere Energien und Landwirtschaft. Als Impuls gebend wird die geographische Verbundenheit mit China und Indien als potenzieller Absatzmarkt von in Nepal produzierten Produkten, Dienstleistungen und Arbeitskräften für höherwertige Tätigkeiten gesehen. Dies verlangt nach dem Ausbau der Infrastruktur für Transport, Mobilität und Energie sowie nach Investitionen in Bildung.
Dabei erkennt die Regierung an, dass die Vision nur erreicht werden kann, wenn Wohlstand geteilt, soziale Exklusion und Diskriminierung abgeschafft und niemand zurückgelassen wird. Als wesentliche Voraussetzung dafür werden im Statusbericht u.a. gute Regierungsführung, die Daseinsvorsorge, Rechtsstaatlichkeit, die Beachtung der Menschenrechte sowie eine starke Zivilgesellschaft, freie Presse und inklusive soziale, ökonomische und politische Prozesse erkannt. So soll soziale Inklusion durch geschlechter- und ethnienbasierte Quoten in der Exekutive und Legislative auf kommunaler, Provinz- und nationaler Ebene erreicht werden. Ein wichtiges Instrument sind die unabhängigen Kommissionen für Frauen, Dalits, Janajatis, Madhesis, Tharus und Muslime sowie die nationale Kommission für Inklusion und die Menschenrechtskommission, die zur Schaffung von Gesetzen und deren Umsetzung beitragen sollen.
Die Ausgangssituation für die neue föderale nepalesische Regierung und Administration ist allerdings nicht einfach. Das Land schaut auf einen 20-jährigen Bürgerkrieg mit zahlreichen Opfern und Gewalterfahrungen, Regimewechseln und jahrzehntelangem politischen Stillstand zurück. Zudem hat 2015 ein Erdbeben die Menschen und die Infrastruktur schwer getroffen. Auch sind die Auswirkungen des Klimawandels in Form von Gletscherschmelze und der Häufigkeit von Wetterextremen bereits spürbar. Dennoch oder gerade deshalb bleibt die nepalesische Regierung ambitioniert und möchte in allen Nachhaltigkeitszielen, inklusive Unterzielen, eine Verbesserung erreichen. Dies gilt auch für die Ziele Gleichberechtigung der Geschlechter (SDG 5), Abbau von Ungleichheit (SDG 10) und der Stärkung von gerechten, inklusiven und friedlichen Gesellschaften und verantwortungsvollen, inklusiven und rechenschaftspflichtigen Institutionen (SDG 16).
Leave no one behind – Wenig Ehrgeiz bei Umsetzung einiger SDGs
Bei der Umsetzung der SDGs scheinen die Ziele in den Handlungsfeldern Tourismus, saubere Energien und Landwirtschaft jedoch relevanter zu sein, als z.B. die Durchsetzung bestehender Gesetze bei Gewalt gegen Frauen und Mädchen (zur Erreichung von SDG 5.2). Dies zeigt der gerade in den Medien sehr präsente Fall der Vergewaltigung und Ermordung eines 13-jährigen Mädchens in Kanchanpur, bei dem Spuren, die zum möglichen Täter führen, von den örtlichen Verantwortlichen nicht beachtet wurden. Hinzu kommt laut dem Nepal Monitor (April-Juni 2018), dass viele Fälle aufgrund mangelnder Kenntnisse, Fähigkeiten oder Schutzmöglichkeiten für Opfer und ihrer Angehörigen gar nicht erst zur Anzeige kommen.
Das gleiche gilt für den Menschenhandel nach Indien, der zu 78 % Frauen und junge Mädchen betrifft, die zur sexuellen Ausbeutung in Bordelle verkauft werden. Laut dem Trafficking in Person-Bericht der Nationalen Menschenrechtskommission (2017) trifft dies zu einem hohen Prozentsatz besonders für Frauen und Mädchen ethnischer Zugehörigkeit oder niederen Kasten zu. Armut gehört neben Marginalisierung, mangelnder Bildung und beruflicher Perspektive zu den treibenden Gründen. Zudem gibt es weitere Strukturen, die das Schicksal vieler Mädchen und Frauen beeinflussen. Häufig hat das Lehrpersonal in Schulen einen Einblick in die familiären Verhältnisse und könnte, wie auch die örtliche Polizei, Aufklärung betreiben und im Falle der Polizei kriminelle Strukturen verfolgen. Die Realität sieht oft leider anders aus, wie Indira Ghale von Change Action Nepal, berichtet. Die Reaktionen des Lehrpersonals reichen von Betroffenheit über Ignoranz bis hin zur Rechtfertigung des Verkaufs von Kindern. Gleiches gilt für die Polizei. Hier reicht das Spektrum von Unfähigkeit bis hin zu Unverständnis oder gar Anschuldigung der Gefährdung der sozialen Harmonie gegenüber den Personen, die auf die Fälle aufmerksam machen. Zudem erfahren die Opfer oder ihre Angehörigen kaum rechtliche Unterstützung oder Schutz.
Aufarbeitung der Bürgerkriegsvergangenheit spielt in den SDGs und auch sonst kaum eine Rolle
Die international ausgehandelte Agenda 2030 ist nicht umfassend. Nicht alle Ziele, die für den jeweiligen Kontext relevant sein könnten, sind in den 17 SDGs und den Unterzielen aufgeführt. Für Nepal und viele andere Länder in Nachkriegsphasen ist das z.B. der verantwortungs- und respektvolle Umgang mit der Vergangenheit und dem immateriellem Vermächtnis für die Opfer und Hinterbliebenen. Dies sahen 2018 auch rund 64,3% der Befragten der landesweiten Himal Media Public Opinion Survey so. Demnach sind 38,5 % der Befragten für eine Untersuchung der Bürgerkriegsfälle, 16,9 % für eine allgemeine strafrechtliche Verfolgung und 8,9 % für eine strafrechtliche Verfolgung der Täter nach internationalem Recht.
Die Bedeutung von Vergangenheitsarbeit für die Erreichung von SDG 16 und weiterer SDGs (Bildung, Gender, Ungleichheit, etc.) wird im nepalesischen SDG-Bericht nur unzureichend erwähnt. Es wird lediglich am Rande auf die Relevanz der Funktionsfähigkeit der Truth and Reconciliation Commission (TRC) und der Commission on Investigation of Enforced Disappearance of Persons (CIEDP) eingegangen. Diese Marginalisierung des Themas schlägt sich auch im gegenwärtigen Umgang mit den Opfern des Bürgerkrieges nieder. Gesetze und Rechtsprechungen des obersten Gerichtshofes oder internationale Standards werden nur teilweise eingehalten oder umgesetzt. Auch ist die Zukunft der beiden Kommissionen für die Opfer des Bürgerkrieges ungewiss, ohne dass ein Großteil der 63.000 anhängigen Fälle bei der TRC und die etwa 3.000 Fälle bei CIEDP überhaupt untersucht werden konnten.
Erkenntnisse aus zahlreichen Ländern mit ähnlicher Vergangenheit zeigen, dass es für einen nachhaltigen
Frieden wichtig ist, die Wahrheit über die Verbrechen herauszufinden und diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die gravierende Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Der Fall des während des Bürgerkriegs ermordeten Ujjan Kumar Strestha zeigt jedoch ein anderes Bild. So wurde zwar der Täter, Bal Krishna Dhungel, verhaftet und am 13. April 2017 wegen Mordes rechtskräftig verurteilt, aber bereits ein Jahr später, am 28. Mai 2018, auf Amnestie-Erlass des Präsidenten zum Jahrestag der Gründung der Föderalen Republik gemeinsam mit weiteren 815 Häftlingen wieder freigelassen. Die Glaubwürdigkeit der nepalesischen Regierung wird durch solche Aktionen stark in Frage gestellt. Auch juristische Unterstützung für die Opfer oder Zeugenschutz waren und sind nicht vorgesehen. Nur wenige Anwälte sind dazu bereit, Bürgerkriegsopfer vor Gericht zu vertreten, wie Badri Prasad Bhusal von Collective Campaign for Peace (COCAP) berichtet. Und trauen sich Personen doch, so werden diese teilweise durch direkte oder indirekte Drohungen daran gehindert oder beeinflusst, wie der prominente Fall des ehemaligen Kindersoldaten Lenin Bista zeigt. Nur wenige Anwälte*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen haben den Mut und die Möglichkeit, ihr Engagement aufrechtzuerhalten. Dies ist noch schwieriger in entlegeneren Regionen, wo gesellschaftliche und staatliche Unterstützungsleistungen, Schutz und die nötige Infrastruktur kaum zugänglich bzw. gewährleistet sind.
Handlungsraum für die Zivilgesellschaft sinkt
Die Atmosphäre zwischen der Zivilgesellschaft und der nepalesischen Regierung wird immer angespannter – insbesondere für regierungskritische zivilgesellschaftliche Organisationen ist die Situation schwierig. Nicht zuletzt hat die „geleakte“ Veröffentlichung des Entwurfs der National Integrity Policy (NIP) gezeigt, welche Zielrichtung die nepalesische Regierung im Umgang mit der Zivilgesellschaft verfolgt. In dem Dokument ist zu lesen, dass vor dem Hintergrund des Schutzes der „sozialen Harmonie“ Regelungen eingeführt werden sollten, die sowohl für nepalesische als auch für ausländische NGOs den administrativen Aufwand erhöhen und eine Erlaubnis für Projektumsetzungen einfordern. Weiterhin hätten die Regelungen den Entzug der Arbeitserlaubnis und den Verweis aus dem Land aufgrund des Verstoßes gegen die „soziale Harmonie“ ermöglicht. Was genau unter „sozialer Harmonie“ zu verstehen ist, bleibt offen und lässt Raum für Interpretation und Willkür. Die Zivilgesellschaft in Nepal zeigte sich gespalten in ihrer Reaktion über diesen Entwurf. Während zivilgesellschaftliche nationale sowie internationale Organisationen und Institutionen scharf dagegen protestierten, berichteten regierungsnahe zivile Organisationen, dass sie keine solchen Reglementierungen fürchteten. Ob die Tolerierung einer solchen Regierungspolitik sich langfristig auszahlt, bleibt abzuwarten – Regierungen können wechseln und Verordnungen neu interpretiert werden. Auch wenn der NIP-Entwurf auf Eis gelegt wurde, zeigt sein Inhalt deutlich, dass sich die Regierung erhofft, Instrumente zur Einschränkung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten einzuführen. Dennoch könnten diese Inhalte auch ohne eine Verabschiedung des NIP in anderer Form Realität werden und ihre Wirkung entfalten.
Wohin wird diese Politik langfristig führen? Welche Rolle schreibt die nepalesische Regierung der Zivilgesellschaft und ihren Vertreter*innen zu? Gibt bzw. kann es überhaupt eine legitime Begründung geben, warum die virulenten Bedürfnisse und Probleme der mehrfach benachteiligten Frauen, Mädchen, Janajatis, Dalits und anderer marginalisierter Bevölkerungsgruppen sowie der Opfer des Bürgerkrieges nicht priorisierend berücksichtigt werden? Und wie können inklusive Prozesse gestaltet werden, wenn kritischere Stimmen nicht gehört werden wollen?
Die Agenda 2030 mit ihren Prinzipien bietet einen hilfreichen Rahmen für die nepalesische Regierung, für die Zivilgesellschaft sowie für die internationalen Akteure, Ziele zu priorisieren und deren Implementierung zu überwachen. Dabei sollten gerade auch jene Ziele mit Nachdruck verfolgt werden, die Grundlage für eine inklusive und friedliche Gesellschaft sind. Gegenwärtig scheint dies nur auf dem Papier zu stehen und nicht in der Praxis zu gelten. Die Zukunftsvision der nepalesischen Regierung, Nepal bis 2030 zu einem inklusiven Wohlfahrtsstaat zu entwickeln, wird so kaum realisierbar sein.